Mein jetziges und mein früheres Ich

Es heißt, der Mensch sei das einzige Lebewesen, das aus der Erfahrung von anderen lernen könnte. Deswegen teile ich heute eine persönliche Erfahrung – damit viele von euch sie nicht mehr machen müssen.

Es passiert manchmal, dass man mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert wird. Manchmal steigen schöne Erinnerungen hoch, manchmal traurige, es zeigen sich unbequeme Wahrheiten oder Erinnerungen an falsche Entscheidungen. Mir ging es so vor ein paar Tagen, als ein Freund ein altes Foto von mir auf der Facebook-Pinnwand geteilt hat. Ich sah es lange an und dann musste ich plötzlich weinen. Es hat mich tief berührt. Das Bild muss aus der Zeit stammen, als ich Ende Zwanzig, Anfang 30 war. Die beste und schlimmste Zeit meines Lebens. Ich erlebte viel, ich kam rum, ich war als Musikredakteurin für die tz tätig und traf die großen Stars der Welt, feierte auf den tollsten Feten dieser Stadt – aber mein Privatleben war eine Katastrophe. Denn ich konnte nichts davon genießen. Ich fühlte mich wie eine Fehlbesetzung. Weil: ich war dick und hässlich. So empfand ich mich damals.

Aus dieser Zeit meines Lebens gibt es so gut wie keine Bilder von mir. Nicht nur, weil die Handyfotografie noch nicht erfunden war, sondern weil ich mich vor jeder Kamera drückte wie der Teufel vor dem Weihwasser. Ich hasste Kameras.  Deswegen traf mich grade das Foto wie ein Schock. Diese schöne, schlanke, junge Frau mit den dunklen glatten Haaren und dem tollen Lächeln – das war ich? Das fand ich damals hässlich? Ich muss ja bescheuert gewesen sein!

Ja. Das war ich. So viel vergeudete Zeit, so viel Traurigkeit und entgangener Spaß – weil ich mich selbst mit anderen verglich, die, ja, vermutlich nicht Größe 38/40 trugen sondern 34/36 – aber: war ich deswegen so viel weniger wert? Ich hab es damals gedacht. Gelitten, mit Diäten gekämpft, meinen Busen versteckt. Männer, die mich gut fanden, die mussten doch auch blind und bescheuert sein – weil, so eine fette Nudel wie mich, die kann doch keiner wollen? Mein Liebesleben war nicht existent, weil ich mich nicht selbst wert fühlte, geliebt zu werden. Ich war auch damals in einer Umgebung, in der sich Schönheit nicht nach liebenswert, freundlich, intelligent bemaß, sondern nach möglichst dünn, möglichst reich, möglichst abgezockt. Das war ich nicht.

Ich bin völlig entsetzt über so viel verschwendete Lebenszeit, die man an Nichtigkeiten geknüpft hat. Wenn ich könnte, würde ich in die Zeit zurückreisen, mein damaliges Ich schütteln und sagen: „Schau dich doch mal im Spiegel an, du bist richtig toll! In 20 Jahren wirst du grau sein, mit Falten, mit etwas Cellulite, aber du wirst zufrieden sein mit dir. Und das solltest du jetzt viel mehr sein!“ Es macht mich traurig, wenn ich daran denke, dass auch jetzt junge Frauen sich mit viel zu gestylten, viel zu perfekt hinretuschierten Models vergleichen und genau das Gleiche denken wie ich damals: ich bin fett und hässlich. Hört auf damit, ihr bereut es irgendwann bitterlich. Spätestens, wenn sie in 20 Jahren sehen, wie toll sie damals waren… Jetzt bin ich Best Ager und endlich (fast) im Reinen mit mir. Ich trage Größe 42 und find das sehr in Ordnung. Es ist schade, dass diese Einsicht so spät kommt.

Wer mehr von Katrin lesen will, findet es auf ihrem Hilgerlicious Blog https://katrinhilger.com/